Gesehen werden

In ihrem Holzstuhl befand sich ein Notfall-Pipibehälter.

Und auch ihren Körper bereitete die damals 62-jährige ein Jahr lang vor:

Auf das Stillsitzen, nur noch früh morgens und abends essen, nicht aufs Klo.

Wie lange halte ich das wohl durch? Wo sind meine Grenzen?

Mit diesen Fragen startete Performancekünstlerin Marina Abramovic im März 2010 ihr Projekt.

Fast drei Monate hielt sie durch und war danach nicht der gleiche Mensch wie vorher.

Ihre Darbietung zählt zu den wichtigsten Kunstwerken des Jahrzehnts und dabei schien der Aufbau recht simpel:

Zwei Stühle inmitten eines großen Raumes.

Das Besondere:

Auf einem saß Marina.

6 Tage die Woche, 7 – 10 Stunden am Tag. Insgesamt 736 Stunden.

Der andere war frei, für jeden, der sich setzen mochte.

Die Regeln: Nicht reden, nur schauen.

Sie schaute, jemand schaute zurück.

Rundherum Menschen, Museumbesucher, Kameras.

In meiner Ausbildung zum Mentaltrainer und Coach machten wir eine ähnliche Übung.

Zwei Minuten saßen wir einander zu zweit gegenüber und schauten.

Eine gefühlte Ewigkeit.

Einige kicherten verlegen, während sie schauten. Andere waren still, abwartend, ergriffen, manchen kullerten Tränen.

Man blickt jemand anderem in die Augen und wird doch gleichzeitig so krass auf sich selbst zurückgeworfen.

Ich sehe etwas im anderen und gleichzeitig etwas in mir.

Spannend!

Marina hatte Blickkontakt mit 1675 Personen, während der fast 3 Monate im Museum.

Unvorstellbar!

Jeder konnte so lange auf dem Stuhl vor ihr bleiben, wie er wollte – manche blieben eine Minute, andere Stunden oder den ganzen Tag.

Die Menschen schliefen dicht gedrängt auf dem Bürgersteig des Museum of Modern Art in New York, um sich morgens ganz vorne in die Schlange zu stellen.

Über 750.000 haben sich das angeschaut oder waren ein Teil davon.

Viele kamen sicherlich, weil Marina berühmt war – doch sie gab ihnen etwas Wertvolles.

Etwas, das wir uns so sehr wünschen und brauchen:

Wirklich gesehen zu werden.

Du kannst nicht komplett entscheiden, wie sehr Du gesehen wirst. Das entscheiden in erster Linie die Menschen, denen Du begegnest.

Aber wir können anderen zeigen, dass wir SIE sehen.

Damit tun wir zugleich auch uns selbst etwas Gutes – da es unsere Verbindung mit anderen stärkt.

 

Du könntest also …

… Dein Kind fragen, was es genau sein soll, das es da gerade malt.

… Deine Kollegin mit Namen begrüßen – anstatt nur „Hallo!“ zu sagen.

… es bemerken und ansprechen, wenn der andere nachdenklicher wirkt, als sonst … oder fröhlicher.

… Deinen Lieblingsmenschen fragen, wie der Tag war – und es auch wirklich wissen wollen.

 

Sehen und gesehen werden und uns dadurch miteinander verbinden – das ist es doch, was uns ausmacht.

In so vielen kleinen Dingen ist es jeden Tag umsetzbar und macht doch einen großen Unterschied in unserem Miteinander.

Liebe Grüße, Moni

PS: Danke, dass Du mich gesehen hast – mich und meinen Beitrag hier.

 

PPS: Einen Ausschnitt aus Marina´s Performance findest Du unter dem folgenden Link. Dort bricht sie zudem für wenige Augenblicke ihre eigene Regel und reicht jemandem ihre Hände. 👇